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Bookdump 04/2020

Bücher, die ich 2020 seit dem letzten Bookdump bisher gelesen habe:

Foto vom Buchregal

  • Zum Werk von Roger Willemsen – Der leidenschaftliche Zeitgenosse, von Insa Wilke (Herausgeberin). Auf 474 Seiten erfährt man über das Leben und Schaffen von Willemsen. Insa Wilke hat eine langes Gespräch mit Willemsen geführt, ein Jahr vor seinem Tod, und mit vielen Beiträgen von Weggefährten, Lesern und Kollegen ergänzt. Daraus ist ein angenehm und flüssig zu lesendes Buch geworden. Einige besonders schöne Stellen habe ich mir notiert, wie z.B. Ethel Matala de Mazza zum Werk »Das Hohe Haus«:

    Ein gewisser Personenkult schadet nicht, findet sie, sondern muss sein, weil die Demokratie sonst unpopulär wird.

    Schön formuliert hat auch Claudia Roth Gedanken zur Politik:

    In der aktiven Politik hat man meist nicht den Luxus von ausreichend Zeit, auch mal hier und da zu schauen, vom Pfad abzuschweifen und nach der Trüffelschweinmethode oder durch ungezieltes Suchen auf Unerwarteteres zu stoßen.

    Eine schöne Stelle von Willemsen wiederum:

    […] Der Chefredakteur einer britischen Tageszeitung hatte über seinem Schreibtisch ehemals ein holzgerahmtes Täfelchen. Darauf stand: »Es ist zwölf.« Gemeint war nicht die Uhrzeit, sondern das geistige Alter des Lesers, und jene Zeile in der Zeitung sollte sich daran messen, ob sie von einem Zwölfjährigen verstanden werden könne. »Die wahre Antidemokratie ist die Massenkultur«, hat Pier Paolo Pasolini gesagt. Sie schafft es, den Menschen ihre eigensten Interessen streitig zu machen und kultiviert dafür Konträrfaszination, die unsympathische Haltung, die uns bei Betrachtung unserer Unterhalten sagen lässt: »Gott sei Dank bin ich nicht wie jene dort.«

    Wer sich für Roger Willemsen und seine Werke interessiert, wird Gefallen an diesem Buch finden.

  • Die Straße, von Ann Petry. Die 383 Seiten haben es in sich. Das 1946 geschriebene Buch könnte thematisch nicht aktueller sein und handelt von den Abgründen der Ausgrenzung und dem Alltag von Schwarzen in den USA. Als Hauptfigur ist Lutie Johnson mit ihrem Sohn Bubb auf der Suche nach einem besseren Leben und versucht dabei ihrem gewalttätigen, sexistischen und rassistischem Umfeld zu entkommen. Besonders die Perspektivenwechsel sind sensationell, und das Buch hat mich in dieser Neuübersetzung begeistert. Ganz klare Leseempfehlung.
  • Ich an meiner Seite, von Birgit Birnbacher. Die Soziologin und Schriftstellerin Birnbacher hat 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen, und in diesem 268 Seiten umfassenden Buch schreibt sie – basierend auf einer realen Vorlage – von Arthur. Arthur saß 2 Jahre im Gefängnis und als LeserIn begleitet man ihn beim Weg zurück ins normale™ Leben. Das Thema Strafvollzug wird sensibel aufgegriffen und das Buch gewährt Einblicke in das Leben und die Probleme von Gefängnisinsassen. In der nächsten Auflage sind hoffentlich mehrere Rechtschreibfehler und Formulierungen wie »Der Computer fährt tatsächlich hoch. Da ist ein vorgespeichertes Kennwert[sic] drauf, er braucht nur zu bestätigen.« beseitigt. Nichtsdestotrotz, schöne zeitgenössische Literatur die zum Nachdenken rund um die eigene Rolle in der Gesellschaft anregt, Leseempfehlung.
  • Abenteuer der deutschen Grammatik, von Yoko Tawada. Dieser 62 Seiten schmale Band spielt sich mit Eigenheiten der deutschen Sprache in Gedichtform. Die Gedichte haben mich ganz unterschiedlich berührt, mal fasziniert, mal verwundert, aber auch gelangweilt. Wer sich für Sprache und Gedichte begeistern kann, findet vermutlich Gefallen an diesem Buch.
  • Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter!, von Ulrich Brunner. Ulrich Brunner ist jener Journalist, zu dem Bruno Kreisky das legendäre »Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter!« gesagt hat. Brunner hat ein wunderbares Buch geschrieben, das im Juli 2020 (50 Jahre nach der ersten SPÖ-Alleinregierung der zweiten Republik) veröffentlicht wurde. Man erfährt über Kreiskys Werdegang, seinen Aufenthalt im Gefängnis und wie belesen er aus dieser Zeit zurückkehrte, über seine Vorbilder Otto Bauer und Karl Renner (mit Maximen wie »Notwendigkeiten, die in der Zeit liegen, die morgen jedermann erkennt, heute erkennen, ist Führung!«), seinen Umgang mit Journalisten und Medien, Kreiskys Macht, Konflikte mit Androsch und sein Leben als schwerkranker Mann. Es finden sich wunderbare Anekdoten (»Einstimmig, damit meint er mit einer Stimme, nämlich seiner!« zu Julius Raab), pointierte Anmerkungen (»Oft waren die Fragen keine Fragen, sondern Meinungskommentare.« – wer kennt das nicht von – speziell technischen – Konferenzen?) und Zitate (Joschka Fischer: »Die Verwandlung des Amtes durch den Menschen dauert etwas länger als die Verwandlung des Menschen durch das Amt.«). Dieses Buch ist speziell für all jene, die sich für Politik, Geschichte und/oder Journalismus/Medien interessieren und besonders Anekdoten gerne lesen. Ich habe die 259 Seiten regelrecht verschlungen und kann das Buch absolut empfehlen.
  • Handbuch für Zeitreisende, von Kathrin Passig + Aleks Scholz. Auf amüsant geschriebenen 335 Seiten gibt es Tipps, Anregungen aber auch Warnungen rund um das Thema Zeitreise. Das stellenweise immer wieder sehr faktendicht geschriebene Buch lädt zum Recherchieren ein, den Sprung zurück zum Buch muss man leider selbst finden. (Dafür würde sich Passigs Buch »Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin« anbieten, naja, oder auch nicht.) Für EntwicklerInnen gibt es ab Seite 270 einen spannenden Ausflug zum Thema Kalender/Datumsangaben, und die Befürchtung bestätigt sich, dass das auch schon im Mittelalter kein wenig unkomplizierter war. Leseempfehlung.
  • Geistergeschichte, von Laura Freudenthaler. Die Teilnehmerin des diesjährigen Bachmann-Preises schreibt auf 168 Seiten über die 50-jährige Klavierlehrerin Anne, die ihren Partner Thomas einer Affäre verdächtigt. Sprachlich beeindruckend dicht, in einer interessanten Mischung aus Realität und Fantasie spielt das Buch mit dem Thema der Wahrnehmung. Anders, aber lesenswert.
  • Das Gewicht der Welt: Ein Journal (November 1975 – März 1977), von Peter Handke. Ein Journal auf 283 Seiten. (Interessantes zum Entstehungskontext und Analysen dazu gibt es bei Handke online.) Als LeserIn darf man an Handkes durchaus auch intimen Beobachtungen und Einfällen teilhaben. Diese Notizensammlung ist das perfekte ZÖK-Buch (Zähne putzen, Öffis, Klo), da man es dank seiner Struktur jederzeit unterbrechen und zu einem beliebigen Zeitpunkt weiterlesen kann.
  • Zwei Herren am Strand, von Michael Köhlmeier. Auf 254 Seiten erfährt man von Gemeinsamkeiten zwischen den Freunden Charlie Chaplin und Winston Churchill: Depressionen und Selbstmordfantasien, die die zwei Protagonisten des Buches in ihren Gesprächen als »der schwarze Hund« bezeichnen. Köhlmeier verpackt Faktenwissen in Anekdoten und unternimmt eine Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion. Ein fantastisches Buch, das ich vor lauter Lesefreude noch in der Nacht fertig lesen musste. Ganz klare Leseempfehlung.
  • Der letzte Satz, von Robert Seethaler. Gustav Mahler reist mit dem Schiff nach New York, auf 126 Seiten begleitet man den Komponisten, Dirigenten und Operndirektor auf seiner letzten Reise. Man erfährt ein wenig über die Person, aber ich hätte mir mehr Tiefgang, speziell zur Musik, gewünscht. Das Buch hört auch schon wieder auf, bevor es so richtig Fahrt aufnehmen kann.
  • Die Parade, von Dave Eggers. Ein Entwicklungsland nach dem Bürgerkrieg, zwei Bauarbeiter – die nicht unterschiedlicher sein könnten – errichten mit Hilfe einer Asphaltiermaschine eine Straße, die den armen Süden mit dem reichen Norden verbinden soll. Fantastisch und spannend geschriebene 178 Seiten, die ich sehr gerne gelesen habe.
  • Klartext Impfen, von Thomas Schmitz + Sven Siebert. Ein Facharzt und ein Journalist haben auf 194 Seiten Fakten rund ums Impfen zusammengetragen, speziell um als LeserIn besser auf Argumente von Impfgegnern reagieren zu können. Der populärwissenschaftliche und unterhaltsam anmutende Duktus hätte für mich nicht sein müssen, geschmacklose Formulierungen wie »Er zog fortan ein Bein nach. Und wenn er nicht gestorben ist, dann tut er das noch heute.« wären wohl besser unterblieben. Ich hätte mir auch noch mehr Quellenangaben und Verweise auf Studien, speziell direkt im Fließtext, gewünscht. Insgesamt aber ein guter und leicht zu lesender Überblick zur Thematik, der alle LeserInnen mit einer positiven Einstellung zum Impfen hinterlassen sollte.

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