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Bookdump 03/2020

Bücher, die ich 2020 seit dem letzten Bookdump bisher gelesen habe:

Foto vom Buchregal

  • Binge Living – Callcenter-Monologe, von Stefanie Sargnagel. Das Urban Dictionary definiert Binge Living wie folgt:

    Long periods of (70+ hour) weeks at work followed by short amounts of time off (1-2 days) that consist of poor decisions, consumption of large amounts of alcohol and disgusting amounts of food and regret.

    Es gibt 193 Seiten an Monologen, die derb und banal, aber auch unterhaltsam sind. Anfangs kam es mir wie eine moderne und lustige Version von Peter Handkes “Wunschloses Unglück” vor. Ab ungefähr der Hälfte des Buches hat es mich nicht mehr ganz so unterhalten, der Überraschungseffekt dürfte für mich ein wenig verloren gegangen sein.

  • Ich, von Elton John. Ich bin über die Literatursendung Literaturclub vom 10.03.2020 auf dieses Buch aufmerksam geworden, das ich mir rein vom Thema und der Aufmachung sonst wohl eher nicht gekauft hätte. Diese Autobiografie enthält 480 Seiten, die sehr ehrlich und offen wirken. Neben der Geschichte hinter der als Reginald Kenneth Dwight auf die Welt gekommenen Pop-Legende Elton Hercules John erfährt man viel Privates über den Popstar. Einerseits einiges rund um Konflikte in seiner Familie (speziell Mutter und Vater), andererseits aber auch diverse und lang anhaltende Kokain-, Alkohol- und Sex-Eskapaden, die mir in dieser Ausprägung nicht bekannt waren. Es gibt viele Referenzen auf Musikstudios, andere Künstler (Elwis Presley, Rod Stewart, Freddie Mercury, Madonna, Tina Turner, Eric Clapton, Michael Jackson und Lady Gagga um nur einige zu nennen) und Geschichten rund um das Musik-Business. Es war sprachlich angenehmen und flüssig zu lesen (geschrieben wurde es vom Musikkritiker Alexis Petridis), auch wenn retrospektiv gesehen eigentlich nicht wirklich viel bei mir hängen geblieben ist. Ich fand es aber ein schönes Buch für zwischendurch und muss zugeben, Elton John auf vielen Ebenen unterschätzt zu haben. Ein wunderschöner Satz aus dem Buch war übrigens folgender, von Elton Johns Mutter zu ihrem Sohn: “Ich liebe dich auch”, sagte sie. “Aber ich kann dich nicht leiden.”
  • Die Bagage, von Monika Helfer. Ein Buch, das ich mir vom Cover her nicht gekauft hätte. Nachdem es mir aber in diversen Literatursendungen immer wieder über den Weg gelaufen ist, konnte ich dann doch nicht widerstehen. In dem 150 Seiten schlanken Buch geht es um die besonders schöne Großmutter Maria und ihren Mann Josef Moosbrugger. Dieser ist im Dorf gefürchtet und muss als Soldat im Weltkrieg dienen, und ein Talent für nicht ganz saubere Geschäfte zu haben scheint. Sie sind eine arme Familie und werden “Bagage” genannt, das für »das Aufgeladene» steht, für die Träger die kein festes Dach über dem Kopf hatten und von Hof zu Hof zogen. Es folgt eine Schwangerschaft inklusive Rätselraten, ob das Kind namens Grete von Josef oder aber doch von einem der Bewunderer Marias stammt.
    Monika Helfer erzählt aus einer autobiografischen Ich-Perspektive als Tochter von Grete und ihr ist hier ein wirklich fantastisches Buch gelungen. Ein besonders schöner Satz aus dem Buch: »Du hast wahrscheinlich keine Chance, nicht etwas Besonderes zu sein.« Sehr lesenswert.
  • Der Mythos des Sisyphos, von Albert Camus. Die 187 Seiten des bekannten Philosophen und Schriftstellers handeln von der absurden Betrachtung, dem absurden Mensch, dem absurden Werk und schlussendlich dem titelgebenden Mythos des Sisyphos. Das Buch handelt von Selbstmord, der menschlichen conditio, dem Auflehnen, der Freiheit und der Leidenschaft. Das Leben ist absurd, aber trotzdem lebenswert. Es geht um den Don-Juanismus, Hamlet mit Schauspiel und Theater, und natürlich Sisyphos und dessen Kampf gegen den Gipfel. Camus ruft auf, Sisyphos als glücklichen Menschen anzusehen. All dies mit dem Hintergrund, dass dieses Werk zur Zeit des 2. Weltkrieges im Winter 1941/42 fertiggestellt wurde. Er definiert das Absurde als etwas, was durch Gegenüberstellung von verglichenen Elementen entsteht, und wie alle Dinge mit dem Tode endet. Camus referenziert dabei auf andere dem Thema des Absurden verbundene Philosophen wie Pascal, Kierkegaar, Nietzsche, Schestow, Husserl, Heidegger und Jaspers.

    Ich habe mir eine Vielzahl an Stellen im Buch markiert, ein kleiner Auszug besonders schöner Stellen:

    »Ein Mensch ist mehr Mensch durch das, was er verschweigt, als durch das, was er sagt.«
    »Und eben das kennzeichnet das Genie: der Verstand, der seine Grenzen kennt.«
    »Für einen Menschen ohne Scheuklappen gibt es kein schöneres Schauspiel als die Intelligenz im Kampf mit einer ihr überlegenen Wirklichkeit.«
    »Man gewöhnt sich so rasch. Man will Geld verdienen, um glücklich zu leben, und die ganze Anstrengung, die beste Kraft eines Lebens konzentrieren sich auf den Erwerb dieses Geldes. Das Glück wird vergessen, das Mittel wird Selbstzweck.«
    »Der Arbeiter von heute arbeitet sein Leben lang an den gleichen Aufgaben, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen er sich dessen bewusst wird.«
    »Es gibt kein Licht ohne Schatten, und man muss auch die Nacht kennen.«

    Anspruchsvoll, tiefgründig und die perfekte Basis für eine tiefergehende und philosophische Gesprächsrunde mit Freunden.

  • Der Freund, von Sigrid Nunez. Aus dem Klappentext:

    Als die Ich-Erzählerin, eine in New York City lebende Schriftstellerin, ihren besten Freund verliert, bekommt sie überraschend dessen Hund vermacht. Apollo ist eine riesige Dogge, die achtzig Kilo wiegt. Ihr Apartment ist eigentlich viel zu klein für ihn, außerdem sind Hunde in ihrem Mietshaus nicht erlaubt. Aber irgendwie kann sie nicht Nein sagen und nimmt Apollo bei sich auf, der wie sie in tiefer Trauer ist. Stück für Stück finden die beiden gemeinsam zurück ins Leben. Ein Roman über Liebe, Freundschaft und die Kraft des Erzählens — und die tröstliche Verbindung zwischen Mensch und Hund.

    Eine Ich-Erzäh­lerin also, die auf 233 Seiten von ihrem verstorbenen Freund und ihrer Adoption dessen Hundes schreibt. Es geht um Gesellschaftskritik und Moral, aber auch Anmerkungen und Kritik rund um die Literatur-Branche. Ich bin an das Buch mit einer hohen (zu hohen?) Erwartungshaltung gegangen, nachdem es von der “Kritik” vielfach hochgelobt wurde. Das Buch liest sich schön und ich hatte auch nicht das Bedürfnis es auf die Seite zu legen, aber so richtig ist der Funke für mich einfach nicht über gesprungen. Woran das genau liegt kann ich retrospektiv nicht benennen, der Katzenmensch in mir reicht als Begründung vermutlich nicht aus. Es schreit insofern danach, in anderer Stimmung und bei anderer Gelegenheit nochmal gelesen zu werden und sich dabei aufs Buch erneut einzulassen.

  • Ich bin Legende, von Richard Matheson. Dieses (mittlerweile vergriffene) Buch wurde ursprünglich 1954 geschrieben und handelt von Robert Neville, dem letzten Mensch auf Erden in einer Welt von Vampiren. Nachts verbarrikadiert er sich in seinem zu einer Festung ausgebauten Haus, tagsüber durchstreift er das Land der Toten auf der Suche nach Nahrung und Waffen.
    Die Ausgabe des deutschsprachigen Buchs hat insgesamt 400 Seiten, beinhaltet neben der Geschichte “Ich bin Legende” (Umfang: 207 Seiten) aber noch weitere (Kurz)Geschichten. Das Gedankenspiel das Matheson hier aufbaut ist reizvoll und negativ-utopisch. Ich fand besonders die Erklärungen zum Vampirismus und die Gedankenspiele rund ums allein sein spannend. Die deutschsprachige Ausgabe ist sprachlich in Ordnung, ich hätte es aber vermutlich nicht gelesen, wenn es nicht auf der Leseliste (m)eines Buchclubs gestanden wäre, bereue aber nicht in das Genre vorgestoßen zu sein. Der gleichnamige Film von 2007 mit Will Smith (der Name ist Programm, viel Knallerei und Action) hat mit dem Buch übrigens nur sehr entfernt miteinander zu tun und ich empfehle ganz klar das Buch gegenüber dem Film. PS: weitere Informationen dazu auch auf Ich bin Legende bei Wikipedia, aber Achtung: Spoiler-Warnung.
  • Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern, von Luna Becker. (Anmerkung: die Kindle-Ausgabe gibt es (zumindest aktuell) kostenlos, auf diese bezieht sich meine Rezension hier.)
    Das Konzept der gewaltfreien Kommunikation (GFK) ist keine Erfindung der Autorin, sondern stammt von Marshall B. Rosenberg und "soll dabei helfen, sachlich und konstruktiv zu bleiben, um auf diese Weise schneller und besser an dein gewünschtes Ziel zu kommen" (Zitat aus dem Buch). Rosenberg unterscheidet zwischen zwei Sprachbildern, dem Wolf und der Giraffe, wobei Becker GFK speziell auf den Umgang mit Kindern umlegt, wie "Drohungen, Bestrafung und Belohnung solltest du bei deinem Kind generell nicht einsetzen."
    Die 139 Seiten sind schnell gelesen. Mich persönlich störten das “per-du” im Buch und einige stilistische Fehler, da hätte ein Lektorat vermutlich nicht geschadet.
    Aussagen wie “Vor allem Mädchen sind weniger verhaltensauffällig und psychisch gefestigter, wenn sich der Vater intensiv in die Erziehung mit einbringen kann.” sowie “Du könntest dich noch ein paar Minuten zu deinem Kind ins Bett legen, um sein Bedürfnis nach Nähe zu befriedigen.” ohne Referenz oder weitergehende Erklärung finde ich nicht ungefährlich.
    Insgesamt regt das Buch zum Reflektieren an, direkt empfehlen würde ich es aber nicht.
  • 1918 – die Welt im Fieber, von Laura Spinney. Dieses 2017 im Englischen veröffentlichte und 2018 erstmalig in einer deutschen Ausgabe erschienene Buch hat es 2020 – bedingt durch die aktuell vorherrschende Situation – in die 4. Auflage geschafft. Wer sich in der aktuellen Corona-Situation für den historischen Kontext interessiert, kommt um dieses 345 Seiten starke Buch eigentlich nicht herum.
    Natürlich erfährt man, warum die spanische Grippe mit ziemlicher Sicherheit ihren Ursprung nicht in Spanien hatte (die drei Theorien Shanxi/China, Étaples/Frankreich bzw. Kansas/Vereinigten Staaten). Schon 1918 gab es mathematische Modellierung von Infektionskrankheiten. In Japan dürfte es damals der Beginn der Sitte gewesen sein, "Atemmasken zu tragen, um anderen Menschen vor den eigenen Keimen zu schützen". Interessanterweise gab es aber schon damals Uneinigkeit, ob Masken die Ansteckung tatsächlich reduzieren, "auch über die Verwendung von Desinfektionsmitteln fand keine Einigung statt". Sehr spannend fand ich die Ausführungen zu Kindern im Schulalter und dass es auch schon damals ein großes Thema war, ob man die Kinder lieber daheim lasst oder in die Schule schickt.
    Es gab auch damals schon hitzige Diskussionen rund ums Impfen, die Impfmethode war sogar älter als die Keimtheorie. Mir war beispielsweise auch nicht bewusst, dass alternative Heiler (Homöopathie, Chiropraktik,…) damals ihren Aufschwung fanden und in Folge die seriösere Bezeichnung “alternative Medizin” erwarben.
    Es gibt diverse Ausflüge in die Medizin (Keimtheorie, RNA/Influenza), Psychologie und gesellschaftliche Fragestellung (Stichwort “Kollektive Resilienz”) sowie natürlich Geschichte und Politik. Wie brandaktuell das Buch und dessen Thema aber eigentlich und nach wie vor ist (und wie sehr die Menschheit manchmal die Geschichte zu ignorieren scheint oder nicht daraus lernen will) zeigt z.B. dieses Zitat aus dem Buch:

    Bei einer künftigen Grippepandemie werden die Behörden und Eindämmungsmaßnahmen wie Quarantäne, Schulschließungen und Verbote von Massenversammlungen verhängen. Da dies zum Besten für alle sein wird, stellt sich die Frage, wie man die Bevölkerung zur Mitwirkung motivieren könnte. Und wie bringt man Menschen dazu, sich alljährlich impfen zu lassen, da ja die Herdenimmunität der beste Schutz gegen eine Grippepandemie darstellt?

  • Mitternacht in Tschernobyl, von Adam Higginbotham. Das vom Verlag als Tschernobyl-Thriller beworbene Buch (Zitat: “Adam Higginbotham hat zahllose Interviews mit Augenzeugen geführt, Archive durchforstet, bislang nicht veröffentlichte Briefe und Dokumente gesichtet. So bringt er Licht in die Geschichte, die bislang im Sumpf von Propaganda, Geheimhaltung und Fehlinformationen verborgen lag.“) liest sich spannend. Viele Zahlen und Fakten der Atomkatastrophe waren mir in dieser Form nicht bewusst. Die Ausgaben für alle Aspekte des Desasters werden etwa auf über 128 Milliarden Dollar geschätzt, bis 1991 hatten sich nicht weniger als 600.000 Männer und Frauen aus der gesamten Sowjetunion an den Aufräumarbeiten als Tschernobyl-Liquidatoren beteiligt und über 20.000 Nutz- und Haustiere wurden von ukrainischen Jägern getötet. Die kontaminierten und unbewohnbaren Bereiche im Nordwesten der Ukraine und im südlichen Weißrussland umfassten 2005 ein Gebiet von über 4700 Quadratkilometern. Diese und noch viele weitere Fakten wurden vom Autor in eine roman-ähnliche Form gegossen, die sich insgesamt relativ rund und flüssig liest.
    Das Buch listet eine Vielzahl an Fehlern die zur Atomkatastrophe Tschernobyl geführt haben (besonders für technik-affine LeserInnen interessant): Behördenversagen, fehlende Sicherheitsvorkehrungen und Sicherheitssysteme, das Problem unvollständiger Informationen (und dadurch resultierende Fehlentscheidungen) und wie Zeitdruck und das überspringen von Tests schwerwiegende Folgen haben können, z.B.:

    Das Resultat wäre eine vernichtende Explosion. Trotzdem sahen die Konstrukteure keine Notwendigkeit, Vorkehrungen für eine solche Katastrophe zu treffen, die sie als außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit betrachteten. Dennoch gaben sie dem Szenario eine eigene Bezeichnung: auslegungsüberschreitender Störfall.

    Auch die korrekte Anwendung von Technik will gelernt sein, Money Quote:

    Die Männer trugen die Montur der Panzerbesatzungen und waren mit teuren in Japan gefertigten Dosimetern ausgerüstet – näherten sich jedoch dem havarierten Reaktorblock, ohne zu wissen, dass man die Geräte auch einschalten musste.

    Das Vertuschen – trotz und in Zeiten von Glasnost – sowie der Wettlauf zwischen den Nationen (Vereinige Staaten vs. Sowjetunion) haben ihr übrigens geleistet. Das Buch hat technisch gesehen 614 Seiten, beinhaltet aber neben Glossar, Bibliographie sowie Personen- und Ortsregister auch über 100 Seiten Anmerkungen (mit unzähligen Referenzen und Quellenangaben, die entgegenwirken, dass man das Buch als Fantasie-Roman abtun könnte). Tatsächlich liest man ca. 453 Seiten, die zwar streckenweise von ein wenig irritierend blumigen Formulierungen unterbrochen werden, aber besonders die zweite Hälfte des Buchs liest sich spannend wie ein Thriller. Das Buch eignet sich auch als guter Startpunkt für weitergehende Recherchen zu den Themen Tschernobyl, Atomkraftwerke und Atomkatastrophen.

  • Inside Türkis, von Klaus Knittelfelder. Diese 224 Seiten rund um den Kurz-Zirkel und die politische Machtbasis des Sebastian Kurz liefern ein gutes Bild um das Agieren der türkisen Truppe besser zu verstehen. Warum der “neuen ÖVP” Loyalität so wichtig ist, ihr Umgang mit sozialen Medien und das Bespielen der Medienbühne sowie die professionelle Kommunikation sind genauso Teil wie brandaktuelle Themen à la Familienbonus und Corona-Krise. Nebenbei erfährt man auch, wie es zur türkisen Farbe der ÖVP kam. Das Buch liest sich gut und flüssig und ist eine klare Pflichtlektüre für Politik-Interessierte.

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