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Bookdump 02/2020

Bücher, die ich 2020 seit dem letzten Bookdump bisher gelesen habe:

Foto vom Buchregal

  • Miroloi, von Karen Köhler. Miroloi ist ein der griechisch-orthodoxen Kultur entspringendes Totenlied. In dem 463 Seiten starken Buch geht es um das Mädchen Alina, ein zunächst namenloses Findelkind, das in einem Dorf namens “Schönes Dorf” auf einer anscheinend griechischen, von der Außenwelt abgeschnittenen und abgeschiedenen Insel am Meer lebt. Das rückständige Dorf, es gibt z.B. keinen Strom, wird in einer patriarchalen Struktur mit strengen Regeln vom Ältestenrat regiert. Frauen dürfen nicht lesen und schreiben, Männer wiederum nicht singen und kochen. Alina verliebt sich in Yael, lernt lesen und Selbstbefriedigung kennen und bricht Gesetze.
    Das Buch ist in Strophenstruktur aufgebaut, es gibt 128 Strophen, und handelt u.a. von heiligen Schriften und Religion (sowie Kritik an dieser) und Spiritualität. Es ist ein sehr schön gestaltetes Buch und fühlte sich ein wenig wie für junge und junggebliebene Leser*innen geschrieben an. Das Buch ist stellenweise ein wenig repetitiv in seiner Gesellschaftskritik, ich fand es aber anregend und sehr schön zu lesen.
  • Ein Zimmer für sich allein, von Virginia Woolf. Dieses Buch in Form eines Essays der Britin Woolf, das im Original unter “A Room of One’s Own” 1929 veröffentlicht wurde, gilt als einer der wichtigsten Texte der Frauenbewegung. Woolf beschreibt darin, unter welchen Bedingungen Frauen Literatur schaffen müssen. Formulierungen wie “Nehmen wir zum Beispiel einmal an, Männer kämer in der Literatur nur als Liebhaber von Frauen vor und wären niemals Freunde von Männern, Soldaten, Denker, Träumer: […]” erinnern stark an den Bechdel-Test und man erkennt viele Passagen, an die sich aktuelle feministische Literatur lehnt.
    Ich habe die Ausgabe aus 2012 von Reclam mit 187 Seiten (inkl. Anmerkungen und Nachwort von Axel Monte) gelesen, im Kampa-Verlag wurde es 2019 übrigens neu aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel aufgelegt. Ein Werk das man gelesen haben sollte.
  • Zum Weinen schön, zum Lachen bitter, von André Heller. Der Universalkünstler Heller schreibt auf 211 Seiten 47 kurze Geschichten und am Ende gibt es noch ein Nachwort von Franz Schuh (in Summe sind es 231 Seiten). Die Geschichten entstanden zwischen 1969 und 2003 und wurden teilweise schon in anderen Büchern Hellers veröffentlicht.
    Mit dem Namen André Heller verbinde ich einen Ästheten, und dementsprechend sollte man in einer ästhetisch aufnahmefähigen Stimmung sein, wenn man dieses Buch liest. Schöne Wortspiele und phantasievolle Gedanken, geschrieben in einer wunderbar zu lesenden österreichischen und wienerischen Sprache (endlich einmal wieder ein Buch ohne “gucken”).
  • Die steinerne Matratze, von Margaret Atwood. In neun Geschichten auf 301 Seiten gibt es schöne fiktionale Literatur rund um Beziehungen, Generationen und Mord. Die miteinander verbundenen ersten drei Texte waren für mich ein schöner Einstieg. Erst später habe ich dann festgestellt, dass die folgenden Erzählungen nichts miteinander zu tun haben, was ich fast ein wenig schade fand. Die Geschichte mit der toten Hand, in der u.a. von einem Buch im Buch geschrieben wird (hallo Rekursion) ergibt ein schönes Konstrukt. Einige Geschichten wiederum fand ich eher plump und unfertig, einige sehr schöne Wortspiele haben das für mich aber wieder gutgemacht.
  • Wann wird es endlich so, wie es nie war, von Joachim Meyerhoff. (Link nur zum Verlag, weil dieser es nicht schafft, funktionierende URLs zu seinen Büchern zur Verfügung zu stellen, sigh.) Den ersten Teil (“Alle Toten fliegen nach Amerika”) dieser vierteiligen Buchserie habe ich 2019 gelesen, und hatte ihn in guter und angenehmer Erinnerung. Ich wollte ein Buch lesen, das “flutscht” und gute Laune macht.
    Meyerhoff beschreibt in diesem 351 Seiten umfassenden autofiktionalen Text das Aufwachsen und Erwachsen-werden aus der Sicht des jungen Josse. Die Geschichte spielt auf dem Anstaltsgelände der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg in Schleswig. Josses 40-jähriger Vater, Direktor dieser psychiatrischen Anstalt, scheint ein wenig in der Midlife-Crisis zu stecken und ist ein Meister der Planung und Theorie, versagt aber stets in der Praxis bzw. Umsetzung seiner Pläne.
    Neben der Thematik der Vaterkind-Beziehung und des Sich-Einordnen unter Geschwistern geht es auch um traurige Themen. Die Situationskomik verschafft insgesamt trotzdem – zumindest bei mir – gute Laune beim Lesen. Das Buch liest sich flüssig, wer gute Unterhaltung mit Stoff zum Nachdenken sucht, wird hier fündig.
  • Wer braucht Superhelden, von Lisz Hirn. Die österreichische Philosophin schreibt in diesem 158 Seiten schlanken Buch über den Mythos der Superhelden, gegen Selbstoptimierung und Komfortdenken, und wirft einen Blick auf unser patriarchales Gesellschaftsbild und dessen toxische ­Männlichkeit. Das Buch handelt von Übermenschen bei Nietzsche und den Nationalsozialisten, geht über die Robotisierung und Verstädterung, die den Arbeiter, ja den Mann entmachtet hat, bis hin zum Transhumanismus und Posthumanisten. Es führt aus, warum der Vergleich von Trump mit Superman besonders ironisch ist, geht mit dem Neoliberalismus kritisch ins Gericht und spricht auch Themen wie Wehrpflicht, Hedonismus und die Mesotes-Lehre an. Die Autorin spricht Fake-News und gängige Irrtümer an, wie beispielsweise: 1. Argumentum ad verecundium (“Autoritätsargument”), 2. Argumentum ad peronsam (“persönliche Beleidigung”), 3. Tu quoque (“du auch”) und 4. Argumentum ad populum (“Volksmund”).
    Das Buch ist zugänglich und ließt sich vergleichsweise flott. Stellenweise gibt es einige stilistische und grammatikalische Patzer, die hoffentlich in einer neuen Auflage ausgeräumt werden. Schwer tue ich mich auch mit manchen Aussagen (ohne Referenzen), wie beispielsweise auf Seite 62: “Während das Gehirn für die erste Begegnung an die 11 Millionen Bits pro Sekunde verarbeiten muss, fallen nur 40 Bits pro Sekunde bei der digitalen Interaktionan [sic], reale Treffen verlangen von uns im Vergleich dazu ein Vielfaches an Denkleistung.” Das scheint mir auf die 2 Systeme von Daniel Kahneman anzuspielen, würfelt es für mich aber ein wenig durcheinander (z.B. gibt es auch digitale Interaktion mittels Video, Audio,…).
    Insgesamt gibt es aber viele Referenzen, und ich rechne es der Autorin an, dass sie das Buch so kompakt und unaufgeblasen gehalten hat, auch wenn viele eingestreute Zitate von Nietzsche und weiteren Philosophen streckenweise den Eindruck des Erzwungenen erwecken und der Tiefgang dann doch fehlt. Ich empfand es insgesamt aber eine philosophische und anregende Lektüre, die zum Reflektieren über Superman, Batman & CO anregt.
  • Was sollen die Leute denken, von Jess Jochimsen. Dies war die Empfehlung eines lustigen Buches von Renato Kaiser beim Schweizer Literaturclub, und ich schließe mich ihm gerne an. Eine Geschichte auf 78 Seiten in Form eines Monologs über das “Funktionieren” und was die Leute von einem denken (sollen). Sehr schön, hätte für mich gerne noch länger sein dürfen.
  • Ich fühl’s nicht, von Liv Strömquist. Die Autorin habe ich 2019 mit “Der Ursprung der Welt” für mich entdeckt. In ihrem neuen 172 Seiten umfassenden Buch in Form einer Graphic Novel ergründet sie anhand des Beispiels Leonardo DiCaprio, warum dieser zahlreiche Beziehungen zu Topmodels in ihren frühen zwanziger Jahren eingeht (und wieder beendet). Es geht um Narzissmus (Foto von sich selbst auf sozialen Medium statt vom Objekt der Begierde), Objektivierung sowie Gedanken zu unserer spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft. Warum das Objekt der Zuneigung als atopos bzw. einzigartig angesehen wird und damit nicht einfach austauschbar ist. Warum Liebe verschwenderisch und irrational sein darf und soll, und warum sie mit einer Konsum- und Leistungsgesellschaft nicht zusammengehen kann. Mit Verweis auf ein Team um Dr. Helen Fischer wird romantische Liebe in drei Phasen, mit zugehörigen und eigenen Hormonkombinationen aufgeteilt: Begierde (Testosteron + Östrogen), Anziehung (Dopamin, Noradrenalin + Serotonin) und Bindung (Oxytocin + Vasopressin). Es gibt auffallend viele Verweise und Referenzen speziell auf die Soziologin Eva Illouz und den Philosophen Byung-Chul Han.
    Das Buch ist schnell (durch)gelesen und hat mir geholfen, einige Phänomene besser verstehen, erklären und beim Namen nennen zu können. Lesenswert.
  • Über Nationalismus, von Georg Orwell. Dieser Essay wurde von Orwell im Mai 1945 verfasst und ist jetzt in einer deutschen Erstausgabe mit einem Nachwort des Soziologen Armin Nassehi (in Summe 62 Seiten) erschienen. Orwell unterscheidet zwischen Nationalismus (“Streben nach Macht”) und Patriotismus (“Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise, die man für die beste auf der Welt hält, aber anderen Menschen nicht aufzwingen möchte”), wobei er Nationalismus nicht auf die Loyalität gegenüber einer Regierung oder einem Land beschränkt, sondern diesen struktureller betrachtet (Religion, Parteizugehörigkeit,…). Die Hauptmerkmale nationalistischen Denkens sind Orwell zufolge Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Weiters teilt er Nationalismus in positiven (Neo-Toryismus, keltischer Nationalismus und Zionismus), übertragenen (Kommunismus, politischer Katholizismus, Hautfarbenbewusstsein, Klassenbewusstsein, Pazifismus) und negativen (Anglophobie, Antisemitismus, Trotzkismus) ein. Er charakterisiert fünf Typen von Nationalisten: britischer Tory, Kommunist, Irischer Nationalist, Trotzkist + Pazifist. Orwell betont, wie wichtig die moralische Anstrengung ist, wie auch das Erkennen von Gefühlen, die eigene Denkprozesse kontaminieren. Nationalisten lassen der eigenen Gruppe Sachen durchgehen, die diese selbst als moralisch verwerflich ansieht und fremden Gruppen nie zugestanden würden. Orwell zeigt, wie schwierig eine unvoreingenommene Perspektive ist und akzeptiert das Heraushalten aus der Politik nicht, speziell für Intellektuelle. Orwell zeigt schön, dass jeder von uns gefährdet ist Nationalist zu werden, und dass auch Intellektuelle (Intelligenzia) nicht vor Nationalismus gefeit sind – ganz im Gegenteil, auf dem Papier lässt sich die Welt wunderbar so konstruieren und erklären wie man es für richtig hält. Anregende Gedanken zum Chauvinismus und einer auch heute nach wie vor präsenten Doppelmoral.
  • Das Tagebuch der Anne Frank, von Anne Frank. Auf 156 wunderschön gestalteten Seiten in Form einer Graphic Novel wird der berühmte Text Anne Franks von Ari Folman und David Polonsky neu umgesetzt. Folman und Polonsky haben aus jeweils 30 Seiten Tagebuch ~10 grafisch aufbereitete Seiten gemacht, ergänzt um fiktive Dialoge. Damit ist ein zugängliches Buch entstanden, das ein schwieriges Thema ein­drück­lich und gut aufbereitet.
    Ich hätte mir mehr Akzentsetzung mittels stellenweise angebrachter Schwarz/Weiß-Zeichnungen und weniger Detailreichtum erwartet, aber vermutlich ist das Buch dadurch besonders für junge LeserInnen und Lesemuffel zugänglicher.

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